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"Der Westen soll ehrlich und direkt mit Rußland verhandeln"

Ein F.A.Z.-Gespräch mit dem liberalen Ökonomen und Leiter der Jabloko-Fraktion, Grigorij Jawlinskij

Seite 18 / Dienstag 26. Janliar 1999. Nr. 21

Die Publikationen auf Deutsch

MOSKAU, 25, Januar. Der liberale Ökonom und Leiter der Duma-Fraktion "Jabloko", Grigorij Jawlinskij hat den Westen angesichts der russischen Wirtschaftskrise zu ehrliehen und direkten Verhandlungen mit Rußland aufgefordert. Der Westen müsse eine andere Einstellung gegenüber Rußland zeigen. Man müsse Partner und Verst?ndnis Finden und sich von Schablonen und Stereotypen der vergangenen Jahre lossagen. Er erwarte gerade auch von der neuen deutschen Regierung diese ehrliche und offene Politik, sagte Jawlinskij in einem Gespräch mit dieser Zeitung.

"Wir sind jetzt sehr krank, sind in einer sehr schweren Lage. Aber wir sind gleichberechtigt und wollen Beziehungen von gleich zu gleich." In Europa habe es nach dem Zweiten Weltkrieg den Marshallplan für den Wiederaufbau gegeben, weil man Stalin und den Kommunismus gefärchtet habe. Heute sei die Bedrohung zwar anders, aber nicht minder ernst. „Kann man jene Bedrohung mit einem Panzer vergleichen, so ist die heutige wie Radioaktivität. Man sieht sie nicht, aber sie kommt. Sie ist verbunden mit einem möglichen Verlust der Kontrolle über die atomaren, chemischen und biologischen Waffen, verbunden mit dem Ausverkauf von Waffen auf dem Territorium Rußlands, mit einer zerfallenden Armee, verbunden mit möglichen ökologischen Katastrophen."

Der 46 Jahre alte Jawlinskij bekräftigte erneut, daß "Jabloko", eine "russische demokratische Partei", an den Parlamentswahlen im kommenden Dezember teilnehmen wird, ohne politische B?ndnisse mit anderen Bewegungen einzugehen. Er selbst wolle für die Präsidentschaft im Jahre 2000 kandidieren. "Jabloko"; habe ein fest umrissenes Wirtschaftsprogramm. Es sehe eine ?nderung der Wirtschaftspolitik, etwa in der Steuerpolitik, vor: So sollten die Einkommensteuer, die 1998 zwischen 12 und 35 Prozent lag, auf 10 Prozent gesenkt werden, die Ertragsteuer für Unternehmen auf 20 Prozent und die für landwirtschaftliche Betriebe auf 15 Prozent. Die heute vielF?ltigen f?deralen Steuern will "Jabloko" auf drei, höchstens vier verringern.

Die Mehrwertsteuer, die in diesem Jahr von 20 Prozent auf 15 Prozent gesenkt wurde, soll nach Vorschlag Jawlinskijs abgeschafft und durch andere indirekte Steuern etwa ?ber die Preise für Strom, Wasser und Boden ersetzt werden. In den Steuererkl?rungen sollen die Steuerpflichtigen lediglich best?tigen, da? sie die Steuergesetze nicht verletzten. Als zweiten wichtigen Punkt seines Programms fordert Jawlinskij für eine ?bergangszeit, natürliche Ressourcen wie Öl, Gas, Gold, Holz unter ?ffentliche Kontrolle zu stellen und die Arbeit der Monopolunternehmen wie etwa Gasprom, die diese Ressourcen vermarkten, transparent zu machen. „Um aus der Krise herauszufinden. schlage ich einen Staatshaushalt vor, der von Einnahmen aus natürlichen Ressourcen gespeist wird." Ferner sieht das Programm vor, diejenigen Betriebe, die zahlungsunf?hig sind, für insolvent zu erklären und zu verkaufen. "Damit werden die Ergebnisse der Privatisierung verbessert."

Private Finanzinstitute mit internationalem Kapital, also wohl russische Dependancen ausl?ndischer Banken, kännten. das nach dem Zusammenbruch der russischen Finanzm?rkte und Gro?banken in vergangenen August geschwundene Vertrauen der Bürger in das Bankenwesen wiederherstellen. "Ohne dieses Vertrauen werden die Menschen ihr Geld nicht zu den Banken tragen." Jawlinskij schließt nicht aus, daß im vergangenen August als die Pyramide der kurzfristigen Staatsobligationen (GKOs) zusammenbrach, russische Banken ihre westlichen Partner get?uscht haben. "Die westlichen Bankiers wu?ten das und haben dazu geschwiegen. Das hat bei uns den Eindruck erweckt, als machten sie mit unseren Banken gemeinsame Sache.Ý Damals sei viel Geld aus Rußland abgeflossen auch über Tochterbanken ausl?ndischer Institute in Rußland.

Die Entscheidungen der Regierung vom 17. August, den Rubel zu entwerten und die Schuldenzahlungen der Banken einzufrieren, habe die Regierung des jungen Ministerpr?sidenten Sergej Kirijenko zum Nutzen der Finanz-Oligarchen getroffen. Diese Entscheidungen verletzten unsere Gesetze und lagen in der Natur unseres Gesellschaftssystems, das ein oligarchisches, halbkriminelles korporatives System war." Jawlinskij, der im vergangenen September Jewgenij Primakow der Staatsduma als Nachfolger von Kirijenko im Amt des Ministerpräsidenten vorschlug, war damals bereit, mit seiner Mannschaft unter Primakow die neue Regierung zu stellen. "Wir haben Primakow unterst?tzt, weil er die politischen Probleme des Landes l?ste und der einzige Politiker war, den Präsident Boris Jelzin vorschlagen konnte und den der kommunistische Teil der Duma akzeptierte. Primakow ist Vizepräsident, eine Art Ersatzmann für Jelzin. Er kännte, falls n?tig, Wahlen durchf?hren. Aber er ist kein Demokrat. Ein Kommunist ist er auch nicht. Er ist ein sowjetischer Bürokrat."

Als Primakow ihm den Posten des Vizeregierungschefs für soziale Fragen anbot, lehnte Jawlinskij ab. "Dann bildete Primakow eine Ökonomisch hilflose Regierung, weil ein sowjetischer Bürokrat keine normale Regierung formen kann. Diese Regierung l?st keine Aufgabe, Haushalt, Steuern. Schulden - sie hat nichts entschieden. Denn an der Macht sind Leute, die sich in diesen Fragen nicht auskennen. Das Gespräch führte Elfie Siegl

Seite 18 / Dienstag 26. Janliar 1999. Nr. 21

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