Die Publikationen auf Deutsch
MOSKAU, 25, Januar. Der liberale Ökonom und Leiter der
Duma-Fraktion
"Jabloko", Grigorij Jawlinskij hat den Westen angesichts
der russischen
Wirtschaftskrise zu ehrliehen und direkten Verhandlungen
mit Rußland
aufgefordert. Der Westen müsse eine andere Einstellung
gegenüber Rußland
zeigen. Man müsse Partner und Verst?ndnis Finden und sich
von Schablonen
und Stereotypen der vergangenen Jahre lossagen. Er erwarte
gerade auch
von der neuen deutschen Regierung diese ehrliche und offene
Politik,
sagte Jawlinskij in einem Gespräch mit dieser Zeitung.
"Wir sind jetzt
sehr krank, sind in einer sehr schweren Lage. Aber wir
sind
gleichberechtigt und wollen Beziehungen von gleich zu
gleich." In Europa
habe es nach dem Zweiten Weltkrieg den Marshallplan für
den Wiederaufbau
gegeben, weil man Stalin und den Kommunismus gefärchtet
habe. Heute sei
die Bedrohung zwar anders, aber nicht minder ernst. „Kann
man jene
Bedrohung mit einem Panzer vergleichen, so ist die heutige
wie
Radioaktivität. Man sieht sie nicht, aber sie kommt. Sie
ist verbunden
mit einem möglichen Verlust der Kontrolle über die atomaren,
chemischen
und biologischen Waffen, verbunden mit dem Ausverkauf
von Waffen auf dem
Territorium Rußlands, mit einer zerfallenden Armee, verbunden
mit
möglichen ökologischen Katastrophen."
Der 46 Jahre alte Jawlinskij bekräftigte erneut, daß "Jabloko",
eine
"russische demokratische Partei", an den Parlamentswahlen
im kommenden
Dezember teilnehmen wird, ohne politische B?ndnisse mit
anderen
Bewegungen einzugehen. Er selbst wolle für die Präsidentschaft
im Jahre
2000 kandidieren. "Jabloko"; habe ein fest umrissenes
Wirtschaftsprogramm. Es sehe eine ?nderung der Wirtschaftspolitik,
etwa
in
der Steuerpolitik, vor: So sollten die Einkommensteuer,
die 1998
zwischen 12 und 35 Prozent lag, auf 10 Prozent gesenkt
werden, die
Ertragsteuer für Unternehmen auf 20 Prozent und die für
landwirtschaftliche Betriebe auf 15 Prozent. Die heute
vielF?ltigen
f?deralen Steuern will "Jabloko" auf drei, höchstens
vier verringern.
Die Mehrwertsteuer, die in diesem Jahr von 20 Prozent
auf 15 Prozent
gesenkt wurde, soll nach Vorschlag Jawlinskijs abgeschafft
und durch
andere indirekte Steuern etwa ?ber die Preise für Strom,
Wasser und
Boden ersetzt werden. In den Steuererkl?rungen sollen
die
Steuerpflichtigen lediglich best?tigen, da? sie die Steuergesetze
nicht
verletzten. Als zweiten wichtigen Punkt seines Programms
fordert
Jawlinskij für eine ?bergangszeit, natürliche Ressourcen
wie Öl, Gas,
Gold, Holz unter ?ffentliche Kontrolle zu stellen und
die Arbeit der
Monopolunternehmen wie etwa Gasprom, die diese Ressourcen
vermarkten,
transparent
zu machen. „Um aus der Krise herauszufinden. schlage ich
einen
Staatshaushalt vor, der von Einnahmen aus natürlichen
Ressourcen
gespeist wird." Ferner sieht das Programm vor, diejenigen
Betriebe, die
zahlungsunf?hig sind, für insolvent zu erklären und zu
verkaufen. "Damit
werden die Ergebnisse der Privatisierung verbessert."
Private
Finanzinstitute mit internationalem Kapital, also wohl
russische
Dependancen ausl?ndischer Banken, kännten. das nach dem
Zusammenbruch
der russischen Finanzm?rkte und Gro?banken in vergangenen
August
geschwundene Vertrauen der Bürger in das Bankenwesen wiederherstellen.
"Ohne dieses Vertrauen werden die Menschen ihr Geld nicht
zu den Banken
tragen." Jawlinskij schließt nicht aus, daß im vergangenen
August als
die Pyramide der kurzfristigen Staatsobligationen (GKOs)
zusammenbrach,
russische Banken ihre westlichen Partner get?uscht haben.
"Die
westlichen Bankiers wu?ten das und haben dazu geschwiegen.
Das hat bei
uns den Eindruck erweckt, als machten sie mit unseren
Banken gemeinsame
Sache.Ý Damals sei viel Geld aus Rußland abgeflossen
auch über
Tochterbanken ausl?ndischer Institute in Rußland.
Die Entscheidungen der Regierung vom 17. August, den Rubel
zu entwerten
und die Schuldenzahlungen der Banken einzufrieren, habe
die Regierung
des jungen Ministerpr?sidenten Sergej Kirijenko zum Nutzen
der
Finanz-Oligarchen getroffen. Diese Entscheidungen verletzten
unsere
Gesetze und lagen in der Natur unseres Gesellschaftssystems,
das ein
oligarchisches, halbkriminelles korporatives System war."
Jawlinskij,
der im vergangenen September Jewgenij Primakow der Staatsduma
als
Nachfolger von Kirijenko im Amt des Ministerpräsidenten
vorschlug, war
damals bereit, mit seiner Mannschaft unter Primakow die
neue Regierung
zu stellen. "Wir haben Primakow unterst?tzt, weil er die
politischen
Probleme des Landes l?ste und der einzige Politiker war,
den Präsident
Boris Jelzin vorschlagen konnte und den der kommunistische
Teil der Duma
akzeptierte. Primakow ist Vizepräsident, eine Art Ersatzmann
für Jelzin.
Er kännte, falls n?tig, Wahlen durchf?hren. Aber er ist
kein Demokrat.
Ein Kommunist ist er auch nicht. Er ist ein sowjetischer
Bürokrat."
Als Primakow ihm den Posten des Vizeregierungschefs für
soziale Fragen
anbot, lehnte Jawlinskij ab. "Dann bildete Primakow eine
Ökonomisch
hilflose Regierung, weil ein sowjetischer Bürokrat keine
normale
Regierung formen kann. Diese Regierung l?st keine Aufgabe,
Haushalt,
Steuern. Schulden - sie hat nichts entschieden. Denn an
der Macht sind
Leute, die sich in diesen Fragen nicht auskennen.
Das Gespräch führte Elfie Siegl
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